Prinzipien im Aikido

Zur Ergänzung der grundlegenden Beschreibung des Aikido werden in diesem Abschnitt verschiedene Prinzipien vorgestellt, bevor im folgenden Abschnitt über die philosophischen Grundlagen im Aikido gesprochen wird. Der Übergang ist dabei fließend, die Trennung so gewählt, dass es zuerst um die deutlicher in Abläufen und Techniken sichtbaren Prinzipien und im Folgeabschnitt stärker um die im Inneren liegenden Dinge geht.

Grundlegende Prinzipien in der Aikido-Bewegung

In der Analyse von Aikido-Abläufen in der Reaktion auf einen Angriff können vier grundlegende Prinzipien identifiziert werden:

  1. Centralization
    Alle Bewegung eines Aikidoka sollen von seiner Mitte ausgehen. In der westlichen Denkweise entspricht diese Stelle etwa dem Schwerpunkt des menschlichen Körpers. Im Aikido kommt dabei einerseits das Atemtraining zum Einsatz, andererseits gilt, dass sich der notwendige Fokus nicht erreichen lässt, wenn nicht gleichzeitig körperliche Entspannung und Durchlässigkeit erzielt werden. Dabei ist mit Entspannung nicht die „Lommeligkeit“ eines Bewusstlosen gemeint, sondern die unverkrampfte Geschmeidigkeit als Gegensatz zur blockierenden Angespanntheit.
    Die Mitte ist nicht zuletzt zentral für folgendes Bild: Wenn eine Person einen Angriff startet, bedeutet das in der Aikido-Vorstellung, dass sie ihre innere Balance und Ausgegli-chenheit, d.h. ihre Mitte verloren hat. Es ist dann die Aufgabe des Aikidoka, diesem An-greifer vorübergehend die eigene Mitte „zu leihen“, damit der andere mit dieser Hilfestel-lung wieder zu seiner eigenen Mitte finden kann. Es geht also sowohl darum, für sich selbst zentriert zu sein und zu bleiben, als auch für die Gesamtlage ein Zentrum der Stabilität anzubieten.
  2. Extension
    Der Begriff der Extension ist ohne eine Vorführung etwas schwieriger zu erklären. Hierbei geht es im Wesentlichen um den Begriff des „Ki“, der Teil des Namens der Kampfkunst ist.
    Ki ist die innere oder intrinsische Energie oder Lebensenergie, die in verschiedenen östlichen Philosophien beschrieben wird. Im Aikido arbeitet man mit der Vorstellung, dass diese innere Energie in jedem Menschen vorhanden ist, ohne Ausbildung aber typischerweise ungeordnet und unkoordiniert vorliegt. Mit Extension wird das Prinzip bezeichnet, das Ki zu koordinieren und „nach außen fließen“ zu lassen. In den Bewegungen äußert sich das unter anderem darin, dass im Aikido selten etwas oder jemand zu sich her gezogen wird, sondern die Kraft vom Aikidoka weggerichtet eingesetzt wird.
    Eine Basis für die Koordination der Ki-Energie ist dabei das Zusammenführen von Körper und Geist. Der Mensch muss als Ganzes agieren. Gerade für den „humanen Ansatz“ der Kampfkünste, bei denen es nicht um die Vernichtung eines Gegners geht, sondern um eine mind-over-matter-Kontrolle der körperlichen Instinkt-Reaktionen durch den Verstand, ist die Notwendigkeit der engen Verbindung von Körper und Verstand offensichtlich.
    Extension an sich hat statische und dynamische Komponenten. Dem statischen Anteil entspricht das Bild, dass die im Zentrum entstehende Energie immer am Fließen nach außen ist. Dieser Zustand von „constant extension“ soll möglichst auch außerhalb des Dojos beibehalten werden.
    Der dynamische Anteil zeigt sich dann in den Aikido-Bewegungen. Der Fluss wird auch während der Technik-Ausführung beständig aufrechterhalten. Zudem wird er dafür eingesetzt, die Angriffs-Richtung zu verstärken, und so den Angreifer aus der Balance zu bekommen. Das wird in den folgenden Abschnitten ausgeführt.
  3. Leading Control
    Ein Angriff erfordert seitens des Angreifers die Ausübung von Kraft oder Energie/Impuls auf den Verteidiger. Das geschieht beispielsweise in Form von Schlägen, Stößen oder dem Versuch, jemanden festzuhalten. In diesem Angriff steckt ebenfalls Ki und zusätzlich die Intention des Angriffs selbst.
    Anstatt solch einem Angriff mit Konfrontation zu begegnen, versucht der Aikidoka, mit dieser Angriffsenergie zu verschmelzen. Das Prinzip der „Leading Control“ bedeutet, dass man die Führung über den Angriff erlangt, um ihn dadurch zu kontrollieren. Es sei noch betont, dass der Ansatz der Leading Control nicht nur auf dem physischen Level, sondern auch auf der Ebene von Energie und Intention zum Einsatz gebracht werden soll.
  4. Sphericity
    Das vierte Prinzip ist auch für den Laien am deutlichsten in den Aikido-Bewegungen zu sehen. Nach der Übernahme der Kontrolle wird die initiale Angriffsenergie auf Kreis- o-er Spiralbahnen gelenkt. Dabei kann die Ebene des Kreises horizontal, vertikal oder diagonal gelegt werden. Zudem kann die Ebene während einer Aikido-Bewegung auch wechseln.
    Die Form der Bahn liegt darin begründet, dass sie möglichst wenig Kraft ausüben muss, um den Partner zu steuern, und nicht von konfrontativer Natur ist. Dadurch kann man einerseits möglichst viel der initialen Angriffsenergie „gegen“ den Angreifer nutzen, andererseits wird das Aggressionslevel des Angreifers nicht noch weiter durch Widerstand verstärkt.
    Je fortgeschrittener ein Aikidoka ist, desto kleiner können die runden Bewegungen werden. Das kann sogar so weit gehen, dass man von außen gar keine Kreisform mehr erkennen kann, weil diese innerhalb des Aikidoka stattgefunden hat. Dennoch bleibt das Prinzip der Sphericity erhalten.

Ablauf in der Begegnung

In diesem Abschnitt sollen die bisher eingeführten Prinzipien und Informationen über Aikido dahingehend zusammengefügt werden, indem die zeitlichen Abläufe der Aikido-Begegnungen betrachtet werden. Der Abschnitt schließt mit der Beschreibung weiterer dafür notwendiger oder eingesetzter Prinzipien.

Ein „auf der Straße“ durchgeführter Angriff eines Aggressors führt typischerweise zu folgenden drei Phasen: Zuerst wird der Angriff wahrgenommen, dann wird eine Entscheidung zur Reaktion getroffen und darauffolgend eine entsprechende Aktion durchgeführt. Der zeitliche Abstand dieser Punkte ist dabei möglichst klein. In der Tat kann die Reaktion quasi direkt auf die Wahrnehmung einer Angriffs-Intention stattfinden. Da ein möglichst früher Handlungsbeginn die Optionen vergrößert, insbesondere deeskalierend tätig zu werden, ist die Ausbildung und Schulung der Aufmerksamkeit ein wichtiger Bestandteil im Aikido.

Der eigentliche Aikido-Ablauf besteht dann seinerseits aus drei Phasen. In der ersten Phase findet die Verschmelzung von Angriffs-Energie und Verteidiger-Energie statt. Der japanische Begriff ist „Ki musubi“. Sie ist die Basis für die Übernahme der Führung der Bewegung über Leading Control. In dieser ersten Phase geschehen drei Dinge. Der Verteidiger verlässt die Angriffslinie des Partners und bringt sich „in Sicherheit“. Quasi gleichzeitig erzeugt er den Kontakt. Parallel dazu „tritt“ der Verteidiger „ein“, wird also zum Mittelpunkt des gemeinsamen Geschehens.

Mit dem guten Kontakt als Basis und über die Führung auf einer typischerweise kreisförmigen Bahn kommt es in der zweiten Phase soweit, dass die Balance des Angreifers „gebrochen“ wird (japanisch: „Kuzushi“). Manche Autoren bevorzugen die Formulierung „destabilisieren“, um zu betonen, dass es nicht um eine aggressiv-konfrontative Vorgehensweise, sondern um eine Weiterleitung bis zum Gleichgewichtsverlust geht.

Die abschließende Phase ist dann die eigentliche Aikido-Technik (Waza). Sie entspricht der Art und Weise, die Sache zu Ende zu bringen. Bemerkenswerterweise wirkt für den Anfänger oder Laien die Technik als der wesensgebende oder spannende Teil im Aikido. Mit fortgeschrittenem Übungsstadium lässt sich erkennen, dass zum Zeitpunkt von „Waza“ die wesentlichen Dinge schon abgewickelt sind. Entsprechend verschiebt sich der Schwerpunkt des Übens auf diese Phasen.

Die neun Säulen des Aikido

Die Aikido-Techniken an sich werden selbst von ihrem Begründer nicht als technisch besonders bezeichnet. Im Gegenteil, sie gehen auf eine lange Historie von vorher praktizierten Kampfkünsten zurück. Die Besonderheit liegt vielmehr in der Auswahl und Ausführungsform der Techniken sowie in der dahinterliegenden Zielsetzung.

Um das zu verdeutlichen werden in diesem Abschnitt neun essentielle Aspekte des Aikidos aufgeführt. Die Auflistung folgt im Wesentlichen der Darstellung von Stevens.

  1. Shiho – “universality”
    Shiho bedeutet “vier Richtungen”. Mit diesem Aspekt wird der Aikido-Übende aufgefordert, die Welt aus ihren verschiedenen Perspektiven zu betrachten und bereit zu sein, sich in alle Richtungen zu bewegen.
    Die Aikido-Technik „Shiho-Nage“ ist eine der Grund-Techniken im Aikido-Repertoire.
  2. Irimi – “entering and blending”
    Irimi bedeutet “vorwärts” – im Sinne von „ohne Zögern nahe kommen“ oder „eintreten“ und nicht im Sinne einer Konfrontation. Es wird mit der Klarheit und Präzision eines einzelnen Schwertstreichs assoziiert und als „economy of motion with maximum results“ bezeichnet. Die Aikido-Technik „Irimi-Nage“ ist eine weitere der Aikido-Grund-Techniken.
  3. Kaiten – “opening and turning”
    Kaiten (oder auch Tenkan) steht für eine öffnende Drehbewegung. Dadurch weicht der Aikidoka dem Angriff quasi seitwärts aus und ermöglicht gleichzeitig das Zurückführen der Angriffs-Energie auf den Aggressor. Das Öffnen ist aber auch im Sinne von „open to possibility, open-minded, and openhearted“ gemeint. Entsprechend wird O’Sensei zitiert: „The secret of kaiten movements lies in your mind, not your body“ .“Kaiten-Nage” ist eine weitere Aikido-Technik, die in keinem Prüfungskatalog fehlt.
    Irimi und Tenkan (oder Kaiten) werden oft als Gegensatz-Paar (nach innen versus nach außen ) genannt und sind die wohl die mit am häufigsten in der Literatur genannten Säulen aus der hier dargelegten Auflistung.
  4. Kokyu – “breath power and good timing”
    Die Wichtigkeit der Atemkraft lässt sich im Kontext von Aikido kaum überbetonen. Hier seien noch Atemtechniken im Zusammenhang mit der Verarbeitung von stressigen oder angsteinflößenden Situationen genannt. Die Wichtigkeit der Bedeutung von Kokyu als „timing“ erschließt sich für die physische Auseinandersetzung von selbst, ist aber als Säule im Aikido auch so gemeint, dass man den Rhythmus der Gesamtsituation in jeglicher Hinsicht beachten soll.
    „Kokyu-Nage“ stellt eine ganze Kategorie von Aikido-Techniken dar.
  5. Osae – “self-control and control of a situation”
    Mit “Osae Waza” wird dieses Konzept mittels einer weiteren Klasse von Aikido-Techniken geübt, den Hebel-Techniken. Dies sind diejenigen Bewegungen, bei denen der Angreifer nicht geworfen wird, sondern in eine kontrollierte Hebelposition geführt wird. Es sei hervorgehoben, dass es explizit nicht um die Kontrolle des Angreifers geht. Dieser Ansatz würde zu leicht zu einem Sieg-Niederlage-Denken führen. Gerade dieses Denken derart unter Kontrolle zu haben, dass es gar nicht entsteht, ist ein Lernziel. Nicht zuletzt deshalb ist dieser Punkt mit self control überschrieben.
  6. Ushiro-Waza – “Dealing with the unknown”
    “Ushiro” steht für “von hinten”: Im Aikido wird auch der Umgang mit Angriffen von hinten geübt. Neben den jeweiligen Techniken, sich aus Umklammerungen zu befreien oder anderweitigen Angriffen zu begegnen, geht es auch bei diesem Punkt um die allseitige Aufmerksamkeit und besonders die innere Haltung, „das Unerwartete zu erwarten“.
  7. Tenchi – “standing firmly between heaven and earth”
    Mit dieser Säule wird die gleichzeitige Verbindung zur Erde, dem bodenständigen Realen, und dem Himmel, dem Bereich der Möglichkeiten und der Optionen betont. Je nach Kontext geht es auch um das Schaffen dieser Verbindung.
    „Tenchi-Nage“ ist ebenfalls eine Aikido-Basis-Technik.
  8. Aiki Ken und Aiki Jo – „ sword of resolution and staff of intuition“
    “Ken” ist eines der japanischen Worte für “Schwert” und “Jo” ist ein etwa 1,30 m langer Holzstab. Das Studium der beiden Waffen gehört je nach Schule mehr oder weniger zum Aikido-Curriculum dazu. Die Arbeit mit dem Schwert unterstützt Klarheit, Fokus und Konsequenz, die mit dem Jo die Flexibilität und Intuition. Besonders interessant sind die Waffen-Übungen, bei denen ein Partner mit Schwert angreift und ein Partner mit Jo darauf reagiert.
  9. Ukemi – „seven times down, eight times up“
    “Ukemi” ist die Bezeichung für die Fallschule, passend zum Begriff „Uke“ für den Angreifer, der am Ende der idealen Aikido-Bewegung geworfen oder gehalten wird. Im Aikido-Training schlüpft einer der Partner in die Rolle des Angreifers. Der Verteidiger kann dann mit dieser Angriffs-Energie üben.
    Kern dieser Säule ist, nach jedem Fall wieder aufzustehen, sich der Möglichkeiten der Rückschläge und der eigenen Haltung bewusst zu sein, jeweils ohne das Gefühl von Überheblichkeit. Ebenso geht es darum, dem Aikido-Übenden durch den Angriff ein Geschenk zu übergeben, indem man den eigenen Körper und die eigene Energie als Übungsgegenstand leiht.

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